Das Versprechen

Es war sechs Wochen vor Weihnachten und ich freute mich bereits unterschwellig, den traditionellen Weihnachtsbaum schmücken zu dürfen. Doch an jenem kalten Novembertag im Jahr 2006, an den ich mich noch heute erinnere, sollte alles anders kommen. Dies war der Tag, der mein komplettes Leben verändern sollte. Damals war ich 19 Jahre alt. Mit einer großen Hypothek musste ich nun ins Leben starten. Vollkommen unvorbereitet musste ich von heute auf morgen erwachsen werden. Der Rauswurf kam gänzlich unerwartet, so wie die weiteren Schicksalsschläge, die mich in den Folgejahren noch heimsuchen sollten. Doch welche großen Veränderungen kündigen sich jemals vorher an? Plötzlich war es still und einsam in meiner neuen Wohnung, die ich innerhalb von vier Wochen kurz nach meinem Rausschmiss gefunden hatte – finden musste. Eines Morgens, als ich auf dem Weg zur Schule war, lag in der Bank-Filiale eine Wochenzeitung aus. Ich schlug sie auf in der geringen Hoffnung, in ihr eine Annonce für ein Appartement zu finden. Wie das Glück es in diesem Moment so wollte, war tatsächlich eine für mich passende Wohnung inseriert. Und so rief ich in der Schulpause die Maklerin an und vereinbarte noch am selben Tag einen Besichtigungstermin. Und auch wenn ich schnell eine schöne und gute Wohnung gefunden hatte, war viel Zeit da, um nachzudenken. Zeit, in der die Narben auf der Seele anfingen, wehzutun. Irgendetwas in mir sprach, dass ich mir selbst ein Versprechen geben sollte. 

Das Versprechen, mein Herz niemals verbittern zu lassen. Ganz gleich, wie viele Narben und Schmerzen es erfuhr. Ein wesentlicher Faktor, der mir in dieser Zeit viel Kraft gab, war mein starker Glaube–der hinduistische Glaube, den ich seit Kindheitstagen praktizierte. Ich hielt stets die Verbindung zu Gott aufrecht, die mir die Gewissheit gab, dass eines Tages alles besser wird. Dass eines Tages auch der Schmerz vorbeigehen wird und ich die Sonnenseiten des Lebens empfangen darf. Die morgendlichen Meditationen vor der Schule gaben mir die innere Ruhe. Auch wenn es nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein war, war dieser Tropfen es wert, dass ich nicht aufgab und die Lösung der Probleme nicht auf falschen Wegen suchte. Die Jahre vergingen und somit verblasste mit der Zeit auch der Schmerz. Ich lernte Stück für Stück, meinen Weg zugehen Mit der Zeit lernte ich, von dem inneren Jungen versöhnlich Abschied zu nehmen, damit aus ihm der Mann werden konnte, der, der ich mit den Jahren wurde. Trotz jeglicher Widrigkeiten, die mich danach heimsuchten, ließ ich mich nie von meinem damaligen Versprechen abbringen.

Heute blicke ich zurück auf jede einzelne Narbe auf meinem Herzen, mit der Gewissheit, dass die dunklen Zeiten endgültig vorbei sind. Dass die wehrlosen Momente aus meiner Kindheit endgültig der Vergangenheit angehören und ich heute mit dem Versprechen von damals meinen Beitrag zur Gesellschaft leisten darf. Und zwar genau dort, wo ich damals diese Hilfe gebraucht hätte. Von jemandem, der mich von dem Ort abholt, an dem ich mich innerlich befand, ohne dass die Lehrer davon jemals Bescheid gewusst hätten. Es geht um die Schüler, dies ich innerlich in ihren Seelenbunker eingeschlossen haben und glauben, dass sie „niemand“ versteht und dass sie „alleine“ sind mit ihrem Schmerz und ihrem Leid. Das sind sie nämlich nicht. Sie brauchen nicht mehr – aber auch nicht weniger – als einen Ort und eine Stimme, die ihnen sagt, dass sie nicht alleine sind, damit sie eines Tages ihren Seelenbunker verlassen und die Sonne der Gegenwart empfangen können. Und eine dieser Stimmen möchte ich mit meiner Arbeit für diese Jugendlichen sein. Und dafür bin ich dankbar. Dankbar, dass ich mein Versprechen bis heute nicht gebrochen habe.