„Wo kommst du her?“ Diese Frage begleitete mich von Kindheitstagen an, und die Antwort war stets die gleiche: Sri Lanka. Von dort stammen schließlich meine Eltern. Erst als ich erwachsen wurde, verstand ich, dass mein Aussehen sofort verriet, dass ich kein Einheimischer, kein hier geborener Deutscher bin. Obwohl ich mit der Insel per se nichts zu tun hatte – bis zu meiner ersten Reise im Alter von 16 Jahren –, war sie doch ein ständiger Begleiter meines Alltags. Und irgendwann hatte ich mich an die Frage gewöhnt, sodass ich sie auch nicht falsch interpretiert habe. Sie signalisierte mir lediglich, dass das Gegenüber aus Neugier und Interesse wissen wollte, wo mein Ursprung liegt. Und genau nach diesem Ursprung habe ich mich auf die Suche gemacht.
Dabei begleiteten mich Fragen: Wie waren eigentlich meine Großeltern, die ich nie kennengelernt habe, vom Charakter her? Wie haben sie gelebt? Welchen Einfluss hatte die Umgebung auf die Erziehung meiner Eltern? So startete ich, ausgestattet mit meinem Fragen-Werkzeugkoffer im Gepäck, nach einigen Jahren wieder das Abenteuer und machte mich auf zur Perle Indiens (ehemals Ceylon).
Ich hörte oft von meinem Vater, dass ich meinem Großvater ähnel, der damals als Schuldirektor in einer Grundschule im Dorf Velanai (Nordprovinz von Jaffna) gearbeitet hat, einem kleinen, abgelegenen Dorf 20 Kilometer entfernt von Jaffna. Jaffna gilt als Hochburg der ethnischen Minderheit des Landes – der Tamilen. Einst herrschte im Land von 1983 bis 2009 Bürgerkrieg, in dem mehrere Tausend Menschen starben und der letztendlich Millionen zur Flucht trieb. Ein Krieg, der auch meine Eltern zwang, ihre Heimat zu verlassen, um in Deutschland einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Ein Krieg, der auch die Seele meiner Mutter mit Narben bedeckte, weil sie es hautnah miterlebt hat, während meinem Vater 1982 die Ausreise gelang – noch bevor 1983 die Pogrome in Colombo anfingen, als innerhalb weniger Wochen gezielt Geschäfte und Häuser von Tamilen in Brand gesetzt wurden.
Als ich nach zehn Stunden Flug endlich in der Hauptstadt Colombo ankam, merkte ich bereits mit dem ersten Atemzug, dass die Luft eine andere ist und ich im wahrsten Sinne des Wortes eine andere Erde betrete.
Auf der Insel, die für viele Touristen immer noch als Urlaubsparadies gilt, trotz der erheblichen Wirtschaftskrise, die das Arbeitervolk und die Armen des Landes am meisten trifft, hatte ich ein weiteres Ziel vor Augen, nämlich so vielen Menschen wie möglich vor Ort zu helfen. So gab ich das Doppelte vom Fahrgeld, wenn ich mit dem Tuk-Tuk (Dreirad) von A nach B fuhr. Es waren umgerechnet immer drei bis vier Euro mehr. Denn eine Tatsache hielt ich mir bei meiner Ankunft vor Augen: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn mein Vater damals nicht nach Deutschland gekommen wäre? Welches Leid muss meine Mutter erlebt haben, als sie alleine während der Pogrome in der Hauptstadt war? Sie sprach nie darüber, sondern machte innerlich zu, sobald ich als Jugendlicher das Thema ansprach. Ich wollte wissen, was sie auf ihrer Flucht erlebt hatte. Vielleicht um sie ein Stück weit besser zu verstehen. Um ihre Geschichte kennenzulernen, die sie zu dem Menschen machte, der sie war. Eine starke, selbstbewusste und emanzipierte Frau, die sich durch nichts und niemanden kleinkriegen ließ. Nicht einmal durch die zahlreichen Schicksalsschläge, die sie in jungen Jahren alleine zu bewältigen hatte. Und das strahlte sie auch aus. Vielleicht habe ich genau ihren Durchhaltewillen geerbt, der mich in den vergangenen Jahren der Herausforderungen, die viel Kraft kosteten, davon abhielt, aufzugeben, auch wenn ich in manchen Momenten kurz davor war.
Ein Einblick zum Fluchthintergrund meiner Eltern: Sie war fünf Jahre alleine in Sri Lanka, als der Bürgerkrieg dort ausbrach, während mein Vater fünf Jahre im Exil war und die Hoffnung nie verlor, eines Tages meine Mutter nachzuholen. Es heißt, dass die Zeit Wunden heilt. Ich denke, dass diese Zeit meine Mutter damals sehr stark formte – zu einer stärkeren Frau, als sie es ohnehin schon war.
Und nach 40 Jahren macht sich ihr Nachwuchs auf die Suche nach genau diesen Spuren. Und da war die Frage in meinem Kopf: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich im Krieg geboren wäre? Schnell fand ich heraus, dass die Art und Weise, wie ich meine Autorenarbeit in Deutschland verrichte, in Sri Lanka so nicht möglich wäre. Zu stark ist das Patriarchat ausgeprägt und zu stark der gesellschaftliche Druck, den kulturellen Vorhang des „Scheins“ zu bewahren. Bei dieser Reise gelang es mir, in das Innenleben der Dörfer zu gelangen und mit zahlreichen Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Während meiner Recherchen fand ich heraus, dass es in der Arbeiterschicht die Frauen sind, die arbeiten gehen und die Familie versorgen, während einige verheiratete Männer tagsüber am Straßenrand stehen und Alkohol trinken. Irgendwie muss die „freie“ Zeit ja vorbeigehen. Eine traurige Realität, die ich sehen konnte und die leider viel zu wenig beleuchtet wird in der medialen Berichterstattung, wenn es um das „Traumparadies“ geht. Vielleicht würde es die Realität des Betrachters verzerren … Zu Hause dürfen die Frauen natürlich nicht das Wort gegen ihren Mann erheben, da sonst das Machtverhältnis erschüttert würde. Die Hoffnung besteht, dass die Emanzipation der Frau auch in der nicht gebildeten Gesellschaftsschicht eines Tages ankommt. 1960 war Sri Lanka eines der ersten Länder in Asien, wo die erste frei gewählte Regierungschefin der Welt gewählt wurde– Srimavo Bandaranaike. Zum Glück ist es nicht die Mehrheit der Männer, die ein Problem mit der Emanzipation der Frau hat. Aber es gibt sie. Dieser Einfluss macht sich auch bei den Frauen bemerkbar, die, obwohl sie viel für das Land leisten, eher im Schatten der Männer stehen.
Als ich 20 Jahre später wieder in Jaffna ankam, sah ich die enorme Entwicklung innerhalb der Gesellschaft und der Infrastruktur. Tatsache ist, dass der Fortschritt der Technologie keine Gesellschaft von seinem Einfluss verschont. Smartphone, Internet und der unbegrenzte Zugang zu allen sozialen Medien haben die konservative tamilische Kultur verändert, die vor vielen Jahren noch einen stringenten Fahrplan hatte, an den sich möglichst alle hielten – ein gezwungenes „Korsett“, das sich langsam, aber sicher gelöst hat. Der Ton unter den Menschen ist rauer geworden, so wie auch der Umgang miteinander. 20 Kilometer weiter liegt das Dorf meines Vaters – Velanai. Dort ging ich in das seit über 50 Jahren verlassene Haus mitten im Wald. Obwohl ich so lange weg war und nie dort gelebt hatte, spürte ich eine Verbundenheit zu dem Ort und zu allen Dingen, die unmittelbar zum Haus gehörten: die Ruhe, die Natur und einfach nur das Dasein. Hier begann die Geschichte.
Die Sozialisierung, die ich von Geburt an in Deutschland erfahren habe, wurde mir noch einmal deutlich. Einige starrten mich an, weil sie bemerkten, dass ich ein „Tourist“ war. Seien es auch nur die Gangart und die europäischen Gesten, die ich im Alltag zeigte, welche mich outeten. Auch das war eine neue Erfahrung für mich: im Land meiner Eltern nicht als Einheimischer von den Menschen gesehen zu werden. Ein seltsames Gefühl, das ich im Laufe meiner Reise akzeptierte. Schnell wurde mir klar, dass ich mich in meiner Mitte wohlfühle und heute weiß, wer ich bin und wo ich hin will. Diese Erkenntnis ließ das Fremdheitsgefühl schnell wieder in den Schatten treten. Heimat ist für mich dort, wo sich meine Seele wohlfühlt, nämlich da, wo das Leben im Hier und Jetzt stattfindet. In jedem Augenblick. Mit jedem Atemzug.
Es muss kein bestimmtes Land und keine bestimmte Gesellschaft sein. Kultur ist, wie ich tagtäglich lebe und mit meinen Mitmenschen umgehe. Wie ich rede. Frei sein und sich frei fühlen.
Damals, als ich innerhalb der kulturellen Gesellschaft in Deutschland unterwegs war, habe ich mich an Normen und Regeln gehalten, weil ich dachte, dass ich es „muss“, weil es „die Gesellschaft“ so vorgibt. Die Gesellschaft – ein Zusammenschluss von wildfremden Menschen, zu denen ich überhaupt keine Beziehung habe. Dieses geistige Konstrukt konnte ich erst verstehen, als ich mich aus dem „Glashaus“ befreit habe, worin ich 24 Jahre lang lebte. Und das eines Tages in sich zusammenbrach. Das war der Beginn zur Reise ins Tal der Emotionen.
Das Patriarchat
Während in deutschen Medien fleißig über das Gendern debattiert wird und das Patriarchat in der hiesigen Gesellschaft offiziell als „ausgerottet“ gilt – aber dennoch in einigen Köpfen fest verankert ist –, genießt dieses System der Unterdrückung der Frauenrechte auf der anderen Seite der Welt seine volle Entfaltung. Für mich war es ein Schock und böser Traum zugleich, aus dem ich so schnell wie möglich wieder aufwachen wollte. In der hiesigen Welt geboren, sozialisiert und aufgewachsen, war so etwas zu sehen und zu hören nicht mit meinem Wertesystem und Weltbild zu vereinbaren. Viele Frauen trauen sich (noch) nicht, gegen das Patriarchat aufzustehen und sich aktiv zur Wehr zu setzen. Sie scheuen sich aber auch nicht zu zeigen, was sie leisten können. Ein Dilemma, in dem sie sich befinden und unter dem sie zugleich seelisch leiden. Sie trauen sich aber nicht, dies lautstark kundzutun. Vielleicht gelingt ihnen eines Tages dieser Schritt.
Als meine Reise zu Ende war, verließ ich die Insel mit der Hoffnung, dass die tamilische Gesellschaft es irgendwann offiziell akzeptiert und es zu einem Wandel im Denken und Handeln der Menschen kommt, dass die Männer ihren Stolz und ihr Ego ablegen und die Frauen endlich gleichberechtigt behandeln. Allerdings denke ich, dass es bis dahin ein sehr langer Weg ist. Ein Weg, der sich langfristig für alle lohnen würde.
Die Welle der Drogen
Nicht im Ansatz hätte ich gedacht, dass Rauschmittel innerhalb von 20 Jahren eine komplette Generation überschwemmen können, wie im Norden, der lange Zeit als Vorzeigegebiet für die alten Traditionen der Tamilen galt. Durch die Berichte meiner Verwandten und zahlreiche Begegnungen mit Einheimischen erhielt ich ein Bild, das einem Albtraum glich. Ein Grund ist unter anderem die hohe Arbeitslosigkeit unter den jungen Menschen, die darunter leiden. Da bietet die „Fluchtwelt Drogen“ den idealen Nährboden, um für einen kurzen Moment aus dem Gefühl der Einsamkeit zu fliehen. Am nächsten Tag, nachdem der Rausch vorbei ist, ist die innere Wunde dann größer als zuvor und Betroffene brauchen mit der Zeit eine immer stärkere Dosis. Ein fataler Nebeneffekt, den viele Konsumierende außer außen vor lassen und dadurch unbemerkt in die Sucht fallen – ein unsichtbarer Strudel, der die Seele und den Körper in die Qual führt. So wie damals zu meiner Schulzeit einige Mitschüler der Drogensucht verfielen, und das zu Kindheitstagen, in den 90er-Jahren. Wie können junge Menschen vor diesen Versuchungen bewahrt werden?
Fazit
Das Gefühl der Dankbarkeit war diesmal noch stärker als je zuvor. Das Privileg, in einem Land aufgewachsen zu sein, wo ich keine Angst habe in Bezug darauf, was ich sagen darf und wie ich mich verhalte. Die vollen Züge der Demokratie auszuleben und die unendlichen Möglichkeiten, die Deutschland bietet. Das konnte ich als kleiner Junge damals nicht immer auf Anhieb erkennen und auch nicht später als Jugendlicher. Erst mit den Jahren und dem Vergleich, als ich die andere Seite der Welt sah, wurde es mir bewusst.
Ich danke auch Deutschland, dass es mir so viel ermöglichte. Etwas, was viele in der hiesigen Gesellschaft noch immer als selbstverständlich betrachten. Was wäre, wenn meine Familie nicht nach Deutschland ausgewandert, sondern dort im Krieg geblieben wäre?
Dankbar für ein Leben in Freiheit und Frieden.