In den ersten Jahren nach Veröffentlichung des Werkes hatten sich einige Leserinnen und Leser gefragt, was ich genau mit der Metapher meinte. Was das Aufwachsen im Exil mit dem „Gefangensein“ zu tun hat? Um dieses Thema geht es in diesem Beitrag.
Beginnen möchte ich mit der Definition eines „Hauses“. Es steht stellvertretend für die Basis eines Menschen – eines Kindes –, wo es im besten Fall Sicherheit, Wärme und Zuneigung erfährt. Die ersten Jahre im Leben eines Menschen sind es, die das Fundament und somit die später im Leben nötige Stabilität bilden. Und dies im besten Fall bedingungslos, was leider nicht immer der Fall ist. Das „Glashaus“ steht für das exakte Gegenteil. Für betroffene Kinder und Jugendliche ist von außen bereits sichtbar, was sie im Inneren erwartet. Dieses Haus ist jederzeit vom Zerbrechen bedroht und genau dies gilt es zu vermeiden, sofern es überhaupt in der Macht der Betroffenen steht. Ich war ebenfalls einst in einem solchen Glashaus gefangen. Gefangen im Karussell der Gedanken und Gefühle, die ständig umherkreisten, damit das Konstrukt für die äußere Welt aufrecht stehen blieb. Unter dem Deckmantel des „kulturellen“ Scheins, der auf seiner Oberfläche die kunterbunte Farbenwelt präsentiert – mit der gesamten Pracht der unzähligen Feierlichkeiten und Tempelfeste, für die die tamilische Kultur bekannt ist. So lernen Betroffene bereits früh, eine Maske zu tragen – die kulturelle Maske.
In einem derartigen „Haus“ aufzuwachsen, in dem die Emotionen des heranwachsenden Individuums weniger wert sind als die des Erwachsenen, der sich in der Pyramide der Hierarchie ganz oben befindet, bildet den Nährboden für „Fluchtwelten“. Im Anschluss sucht sich die Seele das Ventil für die verletzten Emotionen. Hauptsache weg vom Ist-Zustand. Denn eine derartige Flucht ist nichts anderes, als vor dem unerwünschten Gefühl, das sich in dem Moment in einem auszubreiten droht, und dem Zustand, aus dem es hervorging, davonzulaufen.
Persönlich flüchtete ich früh in die verschiedensten Welten, die mir damals zugänglich waren. Nur um die Konfrontation damit zu vermeiden, dass mir Nähe und Zuneigung, die ich mir als Kind und Jugendlicher so gewünscht hätte, zu entscheidenden Zeiten in meinem Leben fehlten. Und sind es nicht gerade genau diese Gefühle, die das Leben bis in die Zukunft navigieren?
Das wurde mir erst Jahre später klar, als ich mich in der Erwachsenenperspektive auf die Reise machte in das Tal der Emotionen, um mein Schicksal neu zu verstehen. Während des Schreibprozesses offenbarte sich mir, dass nicht nur ich in solch einem Konstrukt gefangen war, sondern auch zahlreiche andere. Nur, dass sich damals kein Tamile traute, offen und – noch weniger – öffentlich darüber zu sprechen, aus Angst vor Ausschluss und einem Dasein als Außenseiter. Im Austausch mit gleichaltrigen Betroffenen gelang es mir, genau diese verborgene Gefühls- und Gedankenwelt zu erforschen, und dabei war stets ein und dasselbe Muster zu erkennen. Nach außen trugen viele, wie auch ich einst, eine Maske, um die verletzte Gefühlswelt so gut es ging zu verbergen. Deshalb wurde dieses Symbol ein zentrales Element meines heutigen Bühnenprogramms, mit dem ich seit 2016 bundesweit unterwegs bin.
Das Glashaus gehört heute der Vergangenheit an und wird sich als Zustand nicht wiederholen. Zu schmerzhaft waren die Lehren aus dem Aufenthalt in ihm. Zu dunkel war die Zeit, in der ich mich als wehrloses Kind ausgeliefert sah. Für Betroffene soll das Werk ein Appell sein, sich zu trauen, aus dem Konstrukt auszubrechen und vielleicht auch, falls nötig, mit „Steinen“ zu werfen – mit dem Risiko, dass ihr „Haus“ eines Tages zerbricht. Den Mut zu haben, ein Neues und „Stabileres“ zu bauen. Solch ein Wendepunkt sollte sich für mein 24-jähriges Ich ereignen, als mein Glashaus in sich zusammenfiel. In der Zeit, in der ich vor dem Scherbenhaufen stand und glaubte, dass das Licht der Hoffnung endgültig erloschen sei, begegnete ich einer Ärztin, die den Grundstein für meine heutige Berufung legte. Sie war diejenige, die mir den Anstoß gab, aus meinem inneren Scherbenhaufen ein Werk für Betroffene zu kreieren. So war es wie so oft die Begegnung mit anderen Menschen, die im Leben darüber entscheidet, wie sich der weitere Weg entwickelt. Mit jedem Schritt kehrte ein Stück Hoffnung wieder, einen Funken Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Heute blicke ich zurück auf eine Reise von 1000 befreienden Schritten, die ich seitdem hinter mich gebracht habe. Und dabei war eine wesentliche Eigenschaft von großer Bedeutung: Mut!
Die dunklen Kapitel, die das Leben einst schrieb, liegen hinter mir. Das Glashaus liegt hinter mir.